Bremsen heißt nicht: stehenbleiben!
Als dieser Mann zu mir kam, bestand sein halbes Gesicht aus Augenrändern. Seine Haut unterhalb der Wangenknochen kroch gemeinsam mit den Mundwinkeln Richtung Hals. Die Augen waren zwar hellblau, hatten aber etwas Tiefdunkles, die Schultern waren viel zu weit nach oben gezogen, so, als wollten sie die Mundwinkel auf halber Strecke abholen. Er war eine einzige, körpergewordene Daueranspannung. Und beschwert, als wäre er allein verantwortlich für das Bruttoinlandsprodukt, das Abwenden der globalen Klimakatastrophe und die geistige Gesundheit von Donald Trump. Als hätte er schlicht die Last der Welt allein auf seinen zu hoch geklemmten Schultern.
Er war zu mir geschickt worden. Ich hatte seine Frau durch eine wilde Zeit in ihrem professionellen Leben gecoacht unddann hatte sie mich Monate später angerufen und gesagt: mein Mann gefällt mir überhaupt nicht – ich habe ihn gezwungen, einen Termin mit Dir zu machen. Jetzt habe ich ihn soweit, kann er in den nächsten Wochen kommen?
Das sind, wie meine treuen Blog-Leser schon wissen, oft die ganz besonderen Fälle.
Die, die eigentlich und von sich aus gar nicht zu mir kommen wollen.
Manchmal geht das schief, weil in Wahrheit kein Mensch zu irgendetwas gezwungen werden sollte – denn dann wird der Trotz manchmal zur Bremse für jede Erkenntnis.
Manchmal aber ist es genau andersrum. Und diese Menschen machen auf einmal derartig auf, dass die ganz großen Bewegungen möglich werden.
Mein neuer, zu mir überredeter Klient also ließ sich in meinen Sessel fallen und atmete schwer aus. Er starrte aus dem Fenster, irgendwo in die Hamburger Innenstadt und sah so aus, als würde meine erste Frage ihn gar nicht erreichen…
„Warum sind Sie – wenn wir von der Autorität Ihrer Frau absehen - hier bei mir?“, fragte ich noch einmal.
Er drehte sich zu mir, sah mich ernst an. Und machte dann auf. Ein Fenster. Eine Tür. Eine ganze Schleuse….
Er beschrieb, wie er zum Vertriebsvorstand eines großen Unternehmens aufgestiegen war, wie er oft das Gefühl hatte, eine Art Münchhausen zu sein, weil er in Wahrheit gar nicht mehr alles selbst verstand, was er zu entscheiden hatte. Er erzählte, wie sich Hörsturz eins noch gut hatte verdrängen lassen und welcher Tinnitus-Ton nach Hörsturz zwei zum ständigen Begleiter wurde. Er sprach von seinem schlechten Gewissen seiner Frau gegenüber, weil er so irre seltenaufmerksam und präsent bei ihr und den drei inzwischen pubertierenden Kindern war. Und davon, dass er manchmal morgens nicht wusste, wie er die Kraft aufbringen sollte, die Bettdecke nach hinten zu schlagen und aufzustehen. Und: er beschrieb, wie gerne er seinen Job, auch wenn er ihn auslaugte, mochte. Und wie groß seine Angst war, ihn zu verlieren.
Eigentlich hatten wir ein Kennenlernstunde ausgemacht. Als mein neuer Klient das erste Mal seinen Redefluss unterbrach, waren knapp 90 Minuten vorbei. Meine nächste Klientin saß schon vor der Tür.
Er machte eine kurze Pause. Und dann sagte er:
„Ich bin hier, abgesehen von meiner großartigen Frau, weil ich möchte, dass Sie mir helfen, meine Bremse wieder zu finden. Ich will nicht aussteigen. Ich will auch nicht stehenbleiben. Ich will weiter leisten. Aber ich will nicht mehr, dass alles nur noch durch mein Leben rauscht. Ich will verlangsamen. Und wieder mehr wahrnehmen. Kriegen wir das hin?“
Um das vorweg zu nehmen: wir haben noch viel mehr hingekriegt, seit diesem ersten Kennenlernen.
Für uns alle ist das wichtig, was in diesem Coachingraum, in der Hamburger Innenstadt, an diesem eingetrübten Nachmittag passiert ist:
Die Erkenntnis nämlich, dass es bei permanenter Überforderung nicht darum geht, sofort eine Vollbremsung einzulegen, den Griffel hinzuwerfen und ein Loch in die Luft zu gucken.
Sondern dass es erstmal nur darum geht, ein wenig Tempo rauszunehmen. Zu atmen. Mal wieder wahrzunehmen, was sonst so geht in unseren Leben, außer Rauschen und einem Tinnitus-Ton.
Ich habe meinen Klienten sehr erstaunlich gefunden, an diesem Nachmittag. Erstaunlich, weil er schon verstanden hatte, dass es eben nicht nur schwarz und weiß und nicht nur ganz oder gar nicht gibt. Sondern: ganz viel – eventuell sehr viel Gesünderes – dazwischen.
Das konnte nur großartig werden.
Und das wurde es auch. Vielleicht lernen wir alle ein wenig von ihm.
Eure
Petra Neftel
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