Bis zum Umfallen: Wie wir uns ständig selbst überfordern und wie das wirkt

Geschlafen hatte sie wenig. Gegessen unregelmäßig. Ihre Ohren sausten manchmal in einem ähnlichen Dauerton, in dem ihr Smartphone vor ihr brummte. Gestand sie mir sehr viel später.

Als sie zu mir kam und sagte, ihr Coachingthema sei ganz klar: sie wolle anders wirken; souveräner, stärker - da sah ich sie lange an. Eine attraktive, nervöse Frau Anfang 50 saß vor mir und blickte im 45 Sekunden-Takt auf ihr Handy, auch wenn es ausnahmsweise gerade nichts von sich gab.

Manchmal ist das so, wenn neue Klienten zu mir kommen: sie sind sich ganz sicher, dass sie von außen an ihrer Wirkung arbeiten wollen. Und ich sehe sie an und weiß: das ist das Symptom, aber die Wirkung, die sie erreichen wollen, braucht ein bisschen mehr, als sich nur an diesem Symptom abzuarbeiten. Selbstführung, zum Beispiel.

Ich habe lange gebraucht, um mich zu trauen, sehr früh in solchen Coaching-Prozessen schon zu sagen, dass ich die Lage etwas anders einschätze. Sehr früh schon zu fragen, warum die Wirkung nicht so ist, wie sich der Klient das eigentlich vorstellt. Inzwischen weiß ich aber: wer einfach nur einen Vorturner sucht, der vermeintlich allgemeingültige Kniffe für die Spitzen-Präsentation liefert, der wird sich auf Dauer mit mir als Coach eh nicht wohl fühlen. Deshalb traue ich mich, sehr schnell mit meiner Einschätzung rauszukommen.

Als ich sie direkt fragte, worin sie die Ursache für ihre schwache Wirkung sehe – und ob sie sich eventuell gerade schlicht nicht stark fühle, atmete sie tief ein. Und lange nicht aus. Und dann – lustiger Weise – steckte sie ihr Handy tief nach unten in die Handtasche und machte auf:

Sie war vor Jahren schon in die Geschäftsleitung eines großen Mittelständlers berufen worden. Zu einer Zeit, in der ihre beiden Kinder noch relativ klein waren. Und eigentlich fing die Überforderung da schon an.

Inzwischen war ihr Sohn schon im Abi, ihre Tochter am Anfang der Pubertät, die Geschäftsleitung hatte sie komplett übernommen und ihren Mann sah sie kaum noch. Sich selbst noch viel seltener.

Ich bat sie, mir mal ihren normalen Tag zu skizzieren (und muss sagen: es war ein Wunder, dass diese Frau noch einigermaßen gesund vor mir saß).

Sie stand um 05:00 auf, arbeitete 1 Stunde Liegengebliebenes vom Vortag ab, nahm sich eine halbe Stunde, um die Familienorganisation zu machen (To-Do-Listen zu schreiben, Krankenversicherungsabrechnungen zu machen und so), machte Frühstück, fuhr oft schon in die Firma, bevor der Rest ihrer Familie überhaupt die Augen aufmachte und legte da dann richtig los. Einmal pro Woche pendelte sie noch zu einem anderen Produktionstandort, fast jeden Abend hatte sie ein Essen, eine Verbandsveranstaltung, einen Netzwerk-Termin.  Ihren Kinder whtasappte sie im Familienchat Emoji-Herzen zu.

Sie aß selten richtig und viele belegte Brötchen, oder Konferenz-Kekse zwischendurch. Sie trank viel Kaffee, Sport machte sie in jedem Urlaub und machte sich selbst fertig dafür, die Bewegung danach wieder nicht mehr regelmäßig in ihre super vollen Tage unter zu kriegen.

Das klingt jetzt nach einem extremen Einzelschicksal. Aber das ist es, liebe Blog-Freundin, lieber Blog-Freund, überhaupt nicht.

Wer von uns kennt es nicht, Raubbau an sich selbst zu betreiben? Wer hat nicht manchmal das Gefühl, vor lauter Anforderung von Außen, geradewegs in eine Überforderung zu marschieren? Irgendwas fordert immer gerade Aufmerksamkeit – gerecht werden wir niemandem damit.

Der Erweckungsmoment für meine Klientin war, als ich sie fragte, wie sie denn stark wirken wolle, wenn sie gar nicht stark war, weil sie nämlich all ihre Stärke raushaue und nicht auf sich selbst aufpasse? 

Wir haben selbstverständlich auch an ihrer Wirkung gearbeitet, in den kommenden Wochen. Wir haben aber auch an ihrer Selbstführung gearbeitet. Daran nämlich, wie sie sich regelmäßige Inseln in ihrer Tage baut. Wie sie einmal pro Woche in die Bewegung kommt. Wie sie Ruhe im Kopf schafft. Besser schläft. Gesünder isst. Atmet. Ein und aus.

Der erste, der ihre Veränderung bemerkte, war dann auch nicht ein Mitgesellschafter in der Firma, sondern ihr Mann. Als sie an einem Abend plötzlich in der Badewanne lag, einen kompletten Artikel in der „Zeit“ las und ihn danach auch noch fragte, ob er mit ihr ein Glas Rotwein mit ihr trinken wolle. Er sagte, er habe sie lange nicht mehr so strahlen sehen – ob sie eine heimliche Affäre hätte. Sie lachte, laut. Und sagte: ja, ich habe mich ein bisschen neu verliebt. In mich selbst.

Herrlich. Ich kriege beim Schreiben immer noch Gänsehaut. Aber genau das passiert mit uns. Wenn wir uns trauen, zwischendurch die Forderungs-Stürme draußen zu lassen. Und in uns selbst einzukehren.  Ich liebe es, Menschen dabei zu begleiten. 

Habe ich schon mal gesagt, nicht wahr?


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